Artikel aus der NBI, der neuen Berliner Illustrierten von 1978:

Seit 30 Jahren:

Im Dienste des Kunden

Vor 30 Jahren war sie die erste von Staßfurts Handelsleuten in der HO, heute ist sie mit 71 die Älteste: Grethe Demzin.

Über sie, über Handel und Wandel der HO berichten Cordula Führer (Text) und Uwe Steinberg (Bild).

In großen, ins Auge fallenden Lettern hatte die "Fischgrethe" vor fast drei Jahrzehnten das neugeprägte Kürzel über die Tür ihres gekachelten Reiches geschrieben: HO. Da war die im November 1948 gegründete staatliche Handelsorganisation gerade ein halbes Jahr alt gewesen. Nicht von ungefähr hatte sich die ebenso wortgewandte wie wendige Geschäftsfrau damals mit den neuen Kräften verbündet, die dem Schwarzmarkt den Kampf angesagt hatten. Schon mit sieben Jahren war Grethe mit ihrer Mutter, der ,,Fischrettichen", mit einem Karren voller frischem Fisch über Land gezogen. Auf Wochenmärkten hatte sie gelernt zu rufen: ,,Kauft frischen Schellfisch und Kabeljau“ Stolz, die Geldtasche vor dem Bauch, hatte die Elfjährige, die im Rechenunterricht - nicht aber im Betragen - mit Leichtigkeit ihre Mitschüler ausstach, die erste Ladung allein an den Mann gebracht. Ihr langersehntes eigenes Fischgeschäft eröffnete sie mit 31. ,,Die damals einen Bückling bei mir kauften, waren meist Arbeiter“, erinnert sie sich. ,,Die sich sechse leisteten, konnten nur Geldleute sein."

Den Geldleuten und Schiebern des Schwarzmarktes wollte sie - 1945 Genossin geworden - mit auf den Pelz rücken, als sie sich im Juli 1949 der HO anschloss ,,Die Ware sollte wieder in den Laden“, sagt sie. Und dann im lebhaftesten Magdeburgisch: ,,Nur wenn ich handeln kann, denn jeht’s mich jut!“

Unter dem Zeichen HO pries "Fischgrethe" bald auf Bauernmärkten lautstark ihre Ware an. Florierte ihr Geschäft in der Kalbischen Straße einmal nicht, dann baute sie kurzerhand einen Stand auf der Straße auf. Viele Male wurde die findige Fischfrau als ,,Beste Verkäuferin“ geehrt, zweimal als Aktivistin. Eine andere Anerkennung jedoch, so sagt sie, braucht sie täglich: das Lob zufriedener Kunden.

Ende 1949 trieben in Staßfurt bereits drei HO-Geschäfte auf neue Weise Handel, nicht einigen Spekulanten, sondern der Wirtschaft des jungen Staates zum Gewinn. Anfangs standen Hunderte täglich vor den Läden Schlange nach Waren, die bis dahin nur auf Lebensmittel-  oder Punktkarten erhältlich gewesen waren. Die HO-Preise unterboten die des Schwarzen Marktes erheblich, blieben aber vorerst gepfeffert, denn die dünne Warendecke der Nachkriegsjahre entsprach noch bei weitem nicht der Nachfrage.

Insgesamt 17 Preissenkungen, die erste schon im Sommer 1949, führten die HO-Preise bei steigender Produktion in den folgenden Jahren an die der rationierten Lebensmittel und Konsumgüter heran. 1958 schließlich konnte das System der Rationierung endgültig abgeschafft und ein einheitliches Preisniveau hergestellt werden.

HANDEL IM WANDEL

,,HO“ -über 55 von insgesamt 136 Staßfurter Verkaufseinrichtungen steht heute, oft kaum noch wahrgenommen, das Zeichen der volkseigenen Einzelhandelsorganisation. Es steht über dem Fisch- und Gemüsegeschäft, in dem "Fischgrethe", auf 30 Quadratmetern Verkäuferin, Kassiererin, Buchhalterin zugleich, wie eh and je handelt; und es steht ebenso über der fünfundzwanzig mal größeren Kaufhalle am Leninring.

Morgens Punkt sechs schließt "Fischgrethe" ihren kleinen Laden auf, müht sich mit ersten gelieferten Waren - Fischkisten, Kartoffeln oder Kohlköpfen - die Stufen empor. Um die gleiche Zeit erhalten die weißbekittelten Fischverkäuferinnen in der größten der städtischen Kaufhallen von ihrem Dispatcher Anweisungen für den Tag.

48 Mitarbeiter der Halle, darunter allein acht Kassiererinnen, versorgen gegenwärtig in zwei Schichten und bis zum Kassensturz am Sonnabendmittag 5000 Einwohner des ständig wachsenden Wohngebietes. Später sollen einmal 9000 Bürger hier einkaufen können.

"2800 Artikel umfasst das Angebot, alle Waren des täglichen Bedarfs und ausgewählte lndustrieerzeugnisse", sagt Kaufhallendirektor Hans Albrecht Vogel. "Rund eine Tonne Waren bewegt eine Kassiererin während des Wochenendansturms täglich von Korb zu Korb." Fast die Hälfte der Waren des täglichen Bedarfs kauft der Staßfurter Kunde heute in der Halle. Doch nach wie vor geht ein großer (bei Industriewaren der größte) Teil aller Waren über den Ladentisch kleiner und mittlerer Geschäfte.

RATHAUSGESPRÄCHE

Die Zufriedenheit der Kunden ist auch für Hannelore Odebrett, Stadträtin für Handel und Versorgung, Maßstab ihrer Arbeit. Bei ihr laufen die Fäden des örtlichen Handels, zu dem genossenschaftlicher, privater und Kommissionshandel ebenso zählen wie der volkseigene, zusammen. "Eine Kreisstadt von der Größe Staßfurts zu versorgen", sagt sie, "bedeutet differenzierte Kundenwünsche zu erfüllen - vom Eis am Stiel über das warme Mittagessen oder den Maßgeschneiderten bis hin zur kompletten Wohnungseinrichtung." Machte Hannelore Odebrett Kasse über tägliche Versorgungsleistungen in ihrer Stadt, so müsste sie allein rund 50000 Brötchen, etwa 4000 Brote und über 10000 Flaschen Milch unter dem Strich aufrechnen, die an einem gewöhnlichen Wochentag in Staßfurter Haushalte wandern. Bei Rathausgesprächen mit den für Handel und Versorgung Verantwortlichen stellt die Stadträtin deshalb ein Thema regelmäßig zur Debatte: die Qualität der Versorgung.

Dabei werden stets auch Eingaben  der Bürger diskutiert: Da bedarf manche beengte Verkaufsstelle in den Altbauten der Innenstadt dringend der Renovierung, und da sind Brot und Milch in einigen Lebensmittelgeschäften manchmal schon Stunden vor Kassenschluss ausverkauft. Du müssen die Bewohner des Neubaugebietes noch lange Wege bis zur nächsten Gaststätte in Kauf nehmen, und da ist der Einkauf in der Halle manchmal auch mit langen Wartezeiten verbunden, weil zu wenig Kassen in Betrieb sind. Hannelore Odebrett nennt nur einige Probleme, wie sie nicht nur in Staßfurt auf der Tagesordnung stehen.

"Antwort auf viele Fragen der Bürger", sagt sie, "gibt ein langfristiger, auf das Territorium zugeschnittener Plan: die Konzeption zur Entwicklung des Handelsnetzes." Die Stadträtin erläutert "Vordringlich ist die Rekonstruktion der vielen Geschäfte in den Altbauten, denn auch morgen und übermorgen noch werden wir in den meisten von ihnen einkaufen. Daneben aber schaffen wir neue, moderne Verkaufsstellen wie das Jugendmodezentrum  oder den Modesalon and erreichen so ein breiteres Angebot. Schließlich konzentrieren wir, wie zum Beispiel im Kinderversorgungszentrum, einzelne Sortimente and ersparen so den Kunden Wege und Zeit." Spezialverkaufsstellen und eine Wohngebietsgaststätte sind auch für das Neubauviertel am Leninring vorgesehen.

STASSFURTER REZEPTE

"Haben Sie. . .?", noch zu oft steht den Staßfurter Handelsleuten das Fragezeichen hinter dem Kundenwunsch. Nicht alle Probleme lassen sich mach dam Beispiel des "Fischgrethe" lösen: Wenn einmal kein Räucherfisch am Lager war, dann stellte sie rasch selbst einen Räucherofen auf. "Regelmäßige Sortimentskontrollen, eine gute Verbindung zu den Zuliefernden Betrieben, vor allem aber das "Kittelbuch", helfen dabei, stets gefüllte Regale zu sichern", sagt Kaufhallendirektor Hans-Albrecht Vogel. Das "Kittelbuch", genauer das Bedarfsbuch, hält Kundenwünsche und Sortimentslücken genau fest, Anmerkungen, die in der Kaufhalle am Leninring nicht in der Schürzentasche der Verkäuferin enden, sondern gleich Eingang in die Bestellung der nächsten Tage finden.

Ein anderes Rezept haben die HO-Gastronomen der Bodestadt als erste Handelsleute der Republik erfolgreich ausprobiert: Fast alle Staßfurter Gaststätten haben heute "Paten". Betriebe der Stadt fühlen sich gewissermaßen als Mitinhaber ihrer Partnergaststätten und leisten in Fei- erabendschichten Reparatur- and Rekonstruktionsarbeiten. Belegschaftsmitglieder sitzen heute nicht nur in Gästebeiräten, sondern auch bei Brigadefeiern in der Gaststätte gemütlich zusammen. Erfolg solcher Teilhaberschaft: Innerhalb von vier Jahren wurden 15 Gaststätten rekonstruiert. Nun sollen Verkaufsstellen folgen.

DAS HANDELN IM BLUT

Auch 1978, im 30. Jahr der HO, steht die 71jährige "Fischgrethe", wie eh und je zwei Stunden vor der Zeit, in ihrem Laden. Kreuzlahm schließt sie ihn am Abend ab. Doch bis in ihr Achtzigstes will sie durchhalten, prophezeit sie, wie bisher ohne Minus, ohne einen Tag Krankheit und schlagfertig wie immer. Denn das Handeln liegt ihr im Blut.

Kaufhalle am Leninring in Staßfurt 1978